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IKARE - Tagungen & Kolloquien Kunstgeschichte 2001 Tagungsbericht

Tagungsbericht






Die mittelalterliche Dorfkirche in den Neuen Bundesländern

Forschungsstand – Forschungsperspektiven – Nutzungsproblematik

Kolloquium des Instituts für Kunstgeschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
in Zusammenarbeit mit dem Denkmalrat des Landes Sachsen-Anhalt


Halle (Saale), 11. / 12. Oktober 2001




Das zweitägige, vom Institut für Kunstgeschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Zusammenarbeit mit dem Denkmalrat des Landes Sachsen-Anhalt ausgerichtete Kolloquium mit dem Titel “Die mittelalterliche Dorfkirche in den Neuen Bundesländern. Forschungsstand – Forschungsperspektiven – Nutzungsproblematik” ist als ein erster Versuch anzusehen, sich einem von der kunsthistorischen Forschung über lange Zeit vernachlässigten Thema durch eine Fachdiskussion zu widmen, an der sowohl etablierte Forscher und Denkmalpfleger als auch der wissenschaftliche Nachwuchs teilnehmen. Damit wird unter neuen Vorzeichen an eine Tradition der Beschäftigung mit Landpfarrkirchen in der DDR angeknüpft, so daß ein wichtiger Schritt in der bauhistorischen Erforschung dieser Denkmäler vollzogen wird.

Die acht Vorträge des ersten Veranstaltungstages befaßten sich unter archäologischen und bauhistorischen Aspekten mit der Architektur- und Kunstgeschichte der Sakralbauten ländlicher Regionen in verschiedenen Untersuchungsgebieten in den Neuen Bundesländern. Die fünf Beiträge des zweiten Tages waren als öffentlicher Teil einer Sitzung des Denkmalrates des Landes Sachsen-Anhalt dem Denkmalschutz und der Nutzung von Pfarrkirchen in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen gewidmet. Abschließend fand als gelungene Abrundung der Veranstaltung eine Exkursion zu vier ausgesuchten romanischen Dorfkirchen im Saalkreis statt, die entweder aufgrund ihrer Nutzung oder ihrer architekturhistorischen Bedeutung ausgewählt worden waren. Wolfgang Schenkluhn vom gastgebenden Institut in Halle führte eingangs in die Thematik des Kolloquiums ein und übernahm während der gesamten Veranstaltung die Diskussionsleitung.



- 1. Tag -

Das erste Referat von Marcus Agthe (Cottbus), dessen Schwerpunkt auf der Vorstellung vor allem archäologischer Untersuchungen von Sakralbauten im Braunkohlengebiet der Niederlausitz lag, zeigte nicht nur anhand der vollständig untersuchten, bereits abgegangenen Wolkenberger Kirche, was Grabungen für kunst- und bauhistorische Forschungen bieten können. Hier sind nicht nur die Ermittlung von Grundrissen von Vorgängerbauten, Emporen- und Taufsteinfundamenten, Fußbodenbelägen und auch Bestattungen aus dem Mittelalter und der Neuzeit anzusprechen, sondern auch der z.T. anzutreffende Reichtum an Kleinfunden, der sich in Fundstücken wie Toilettegerät, Buchbeschlägen, Tonpfeifen und Münzen niederschlägt, was auch für volkskundliche Forschungen von Bedeutung ist. Taufsteinfundamente zeigen darüber hinaus ursprüngliche Aufstellungsorte von Fünten und geben damit Hinweise auf den Ablauf der liturgischen oder rituellen Handlungen im Kirchenraum. Verwiesen wurde auch auf die Bedeutung der Auswertung von historischen Karten und Photographien, die gerade in Bezug auf wüst gefallene Dörfer oder bei durch Tagebau abgegangenen Kirchen von Bedeutung sind. In diesem Rahmen kamen auch Nachweise hölzerner Vorgängerbauten zur Sprache, die in den letzten Jahren im südlichen Brandenburg ermittelt werden konnten und deren Bedeutung für die Bau- und Siedlungsgeschichte unumstritten ist.

Tilo Schöfbeck (Berlin), der sich im Rahmen seines Dissertationsvorhabens an der Technischen Universität Berlin mit den mittelalterlichen Dorfkirchen in Mecklenburg-Vorpommern beschäftigt, bot in seinem Vortrag einerseits einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Sakralbaukunst im Lande, andererseits lag der Referatsschwerpunkt auf der Vorstellung dendrochronologischer Untersuchungsergebnisse mittelalterlicher Dachwerke und Turmhölzer der Kirchen in seinem Untersuchungsgebiet, die z.T. neue Datierungsansätze für die Bauwerke lieferten. Hinweise auf bislang kaum beachtete, geschweige denn untersuchte Fachwerkkirchen des 16. Jahrhunderts in Mecklenburg und auch Brandenburg zeigten ferner, wie groß die diesbezüglichen Forschungslücken hier noch sind. Daneben stehen ebenso unerforscht und konstruktionstechnisch als selten zu bezeichnende Baulösungen einiger Kirchen, welche die bislang unbekannte Konstruktionsart eines ummauerten Fachwerkgerüstes besitzen. Der Hinweis auf die sächsische Kirchspielverfassung erwies sich daneben als wichtig für die Einordnung der Sakralbauten in den historischen Kontext, wobei auch die urkundliche Überlieferung, das Geflecht von Mutter- und Filialkirchen, die keinerlei Unterschiede in der Baugestaltung zeigten, und die hochmittelalterliche Siedlungsgeschichte sowie mögliche Einflüsse der Bistumsgrenzen auf die Ausbildung von bestimmten Baugruppen angesprochen wurden. Letzteres konnte T. Schöfbeck allerdings nicht nachweisen.

Bereits abgeschlossene Studien zu den mittelalterlichen Dorfkirchen in Thüringen stellte Rainer Müller (Erfurt) anhand von Kirchen des ehemaligen Archidiakonats B.M.V. Erfurt vor (Rainer Müller, Mittelalterliche Dorfkirchen in Thüringen. Arbeitsheft des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege, Neue Folge, Heft 2, Altenburg 2001). Vorgestellt wurden folgende Sakralbautypen: der Apsissaal, die Chorquadratkirche und die sogenannte “vollständige Anlage” mit dem Hinweis auf besonders im 15. Jahrhundert erfolgte Umbauten, die z.T. offensichtlich der Konkurrenz zum städtischen Kirchenbau zu schulden seien. Eine interessante Beobachtung zeigte sich in der Bemerkung, daß alle Kircheneingänge immer dem Dorf zugewandt waren; eine Aussage, die für andere Gebiete noch zu überprüfen ist. Von Bedeutung sind auch die Ausführungen R. Müllers zum Techniktransfer aus anderen Regionen, was er am Beispiel der Kirche in Neunhofen, die dem Kloster Saalfeld unterstand, illustrierte. Dabei wurde besonders die vorbildhafte Wirkung von technisch hochentwickeltem Mauerwerk, wie es z.B. an der Erfurter Peterskirche zu finden ist, herausgestellt. Ferner konnte er einen Unterschied in der Gestaltung von Kapellen und Pfarrkirchen im Gegensatz zu Eigenkirchen des ortsansässigen Adels feststellten. Wichtig sind hierbei vor allem die Inszenierung des Raumeindrucks durch gestaffelte Bauabfolge, Lichtführung und Innenraumdekoration. Dieses wurde am Beispiel der Kirchen zu Teutleben bzw. Neunhofen verdeutlicht, wo u.a. ein bedeutendes Wandmalereiprogramm sowie eine durch Präge-Estrich gezierte Westempore zu finden sind.

Anschließend stellte Dirk Höhne (Halle) die Ergebnisse dendrochronologischer Untersuchungen als einen Aspekt der Forschungen im Rahmen seines Dissertationsprojektes an der halleschen Universität zum romanischen Dorfkirchenbau des Saalkreises vor. Einleitend wurden die Grundlagen und Möglichkeiten der Dendrochronologie im Rahmen bauhistorischer Untersuchungen erläutert, wobei auch auf die Probleme dieser Datierungsmethode - speziell im Arbeitsgebiet des Referenten - hingewiesen wurde. So ist beispielweise die dort vielfach verbaute Ulme momentan noch nicht datierbar. Neben der Zielstellung, absolute Daten zum Beginn des steinernen Kirchenbaues in der Region zu gewinnen, wurden bei den Untersuchungen außerdem bewußt sekundär verwendete Hölzer beprobt, um zeitliche Rückschlüsse auf potentielle Vorgängerbauten - auch aus Holz - ziehen zu können. Als ein Fazit konnte festgehalten werden, daß die Ergebnisse der Dendrountersuchungen die bereits von kunsthistorisch-stilistischer Seite in Erwägung gezogene Hauptbauzeit der ländlichen Sakralbauten aus Stein im Gebiet um Halle zwischen 1150 und 1250 bestätigten. Die gewonnenen Daten stellte D. Höhne abschließend in den Kontext der regionalen historischen Situation zur Zeit der Christianisierung, die in einem Großteil des Arbeitsgebietes eben erst im Verlauf des 12. Jahrhunderts durch die Ansiedlung von Kolonisten und der Gründung von Klöstern in die entscheidende Phase getreten war.

Auch Jochen Roessle (Bonn) präsentierte sein Promotionsprojekt, das er an der Universität Bonn verfolgt und das die romanischen Dorfkirchen im Gebiet um Magdeburg zum Thema hat. Hierbei werden etwa 100 rezente Pfarrkirchen untersucht, wobei die Gebietsauswahl nach rein geographischen Gesichtspunkten erfolgte. Dadurch bietet sich im Gegensatz zu streng historisch bestimmten Regionen die Möglichkeit, zwei geschichtlich unterschiedlich gewachsene Landstriche miteinander zu vergleichen. In diesem Zusammenhang ist allgemein festzustellen, daß für jede einzelne Studie, bei der eine Gebietsauswahl nach bestimmten geographischen, historischen oder baugeschichtlichen Kriterien erfolgt, die Frage nach der Zweckmäßigkeit der jeweiligen Grenzziehung gestellt werden muß. Der Referent legte für sein Arbeitsgebiet nun anhand verschiedener, beispielhaft gewählter Einzelanalysen nicht nur den Bauverlauf der jeweiligen Kirchen offen, sondern bot auch neue Erkenntnisse zu den Turmanlagen der Kirchen um Magdeburg. Deutlich wurde, daß es in seinem Arbeitsgebiet nur drei turmlose Kirchen sowie wenige Sakralbauten mit Glockengiebeln bzw. kleinen Dachtürmen gibt. Damit reihen sich diese Untersuchungsergebnisse in den überregionalen Kontext ein, der schon in der einschlägigen Literatur mit dem Begriff “Westturmlandschaft” umschrieben wurde.

Im Anschluß daran stellte Damian Kaufmann (Kiel) die Ergebnisse der Forschungen für seine Magisterarbeit zu den romanischen Dorfkirchen aus Backstein an der mittleren Elbe und ihre Beziehungen zur ehemaligen Prämonstratenserkirche in Jerichow vor, die unlängst an der Kieler Universität fertiggestellt wurde. Diese Studien, denen vor allem ein klassischer kunsthistorischer Ansatz zugrunde liegt, sollen zukünftig zur Promotionsschrift ausgeweitet werden. Unter Hinweis auf die älteren allgemeinen Studien zur Backsteinbaukunst sowie jüngere regionalbezogene Beiträge präsentierte der Referent eine abgerundete Auswahl an Kirchen aus seinem Arbeitsgebiet. Dabei schlug er z.T. neue, auf einer rein stilistischen Analyse basierende Datierungsansätze vor. Es kamen ferner Sonderformen von Friesen, wie z.B. Rauten- oder Rundbogenfriese mit kleinen Kopfkonsolen, zur Sprache. Außerdem stand die “Instrumentierung” des Baukörpers z.B. durch Lisenen im Vordergrund der Ausführungen. Die Feststellung, daß die Schauseiten der Oratorien in D. Kaufmanns Untersuchungsgebiet zum Dorf gewandt seien, erlaubten auch hier – ähnlich wie die Ausführungen von R. Müller – einen kleinen Einblick in den Zusammenhang von Baugestaltung der Kirche und ihrer Lage innerhalb der mittelalterlichen Ortschaft.

Diesen beiden Vorträgen schloß sich eine angeregte und kontroverse Diskussion um den vermeintlich fortifikatorischen Charakter von Westturmanlagen und die Funktionen von Westtürmen an. Angesprochen wurden dabei u.a. hölzerne Sperriegel in Turmuntergeschossen und an Saalportalen, denen eine wehrtechnische Funktion allerdings abgesprochen werden muß. Aus dem Auditorium kam der Hinweise auf mehrgeschossige Türme mit hochgelegenem Einstieg. Daß Türme generell im Notfall auch als Zufluchtsort oder zur Überwachung der umliegenden Gegend dienen konnten, wurde nicht ausgeschlossen, ein echter Wehrcharakter ist aber i.d.R. auszuschließen oder bedarf im Einzelfall der Überprüfung. Hierbei wurde deutlich, daß das Wissen um die Entwicklung der mittelalterlichen Militärtechnik bis auf Ausnahmen in kunsthistorischen Kreisen kaum gepflegt wird.

Im Anschluß daran stellte Christine Kratzke (Leipzig) erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes, das in die Erforschungen der Projektgruppe “Germania Slavica” am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. in Leipzig integriert ist, vor. Es handelte sich dabei sowohl um methodische Überlegungen zur Untersuchung von Landpfarrkirchen als auch um die Präsentation von Fallbeispielen aus Vergleichsregionen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Angesprochen wurden dabei nicht nur die Bedeutung der Landpfarrkirchen im historischen Kontext des hochmittelalterlichen Landesausbaus, sondern auch ihre kulturhistorische Bedeutung innerhalb der einzelnen Ortschaften. Darüber hinaus zeigte sich ähnlich wie im folgenden Beitrag, daß Größe, Typ und Detailgestaltung sowohl Aussagen hinsichtlich der bau- und kunsthistorischen Bedeutung als auch auf den Stellenwert einzelner Sakralgebäude im Ort oder der jeweiligen Mikroregion geben.

Unter ähnlichen Prämissen stellte Matthias Friske (Berlin) Überlegungen zur Unterscheidung von Stadt- und Dorfkirchen in den brandenburgischen ‚Neuen Landen‘ des 13. Jahrhunderts vor, die zugleich auch Teil der Ergebnisse seiner im Jahr 2000 an der Berliner Humboldt-Universität abgeschlossenen Dissertation darstellen (Matthias Friske, Die mittelalterlichen Kirchen auf dem Barnim. Geschichte – Architektur – Ausstattung. Kirchen in ländlichem Raum, Bd. 1, hg. v. Bernd Janowski, Thomas Raschke und Dirk Schumann, Berlin 2001). Es wurde deutlich, daß es in diesem Untersuchungsgebiet erst mit der Herausbildung der städtischen Kultur auch zu einer Formung von Pfarrkirchen in den Dörfern kommen konnte. Der Referent berücksichtigte dabei sowohl die verschiedenen Bautypen, Materialqualität und Detailausbildung sowie die Lage der Kirchenorte im mittelalterlichen Straßennetz. In diesem Zusammenhang stellte M. Friske fest, daß die bauliche Ausführung der Pfarrkirche weniger Auskunft über eine angestrebte Bedeutung der Ansiedlung geben kann, sondern vielmehr über die reale Bedeutung der Ortschaft zum Zeitpunkt des Kirchenbaues unterrichtet.



- 2. Tag -

Am zweiten Tag wurden neue Wege beschritten. In seiner Begrüßungs- und Einführungsrede machte W. Schenkluhn darauf aufmerksam, daß die Vorträge erstmals im Rahmen einer öffentlichen Sitzung des Denkmalrates stattfinden. Die bewußte Verlagerung in die Öffentlichkeit sei vor allem dem grundsätzlichen und allgemeinen Interesse am Thema der Bewahrung und Nutzung von Dorfkirchen geschuldet. In diesem Zusammenhang sieht es der Denkmalrat aufgrund der prekären baulichen Situation von Dorfkirchen im Osten Deutschlands als wichtige Aufgabe an, für den jährlichen Denkmalpreis des Landes auch Fördervereine vorzuschlagen, die sich für den Erhalt kirchlicher Bauwerke einsetzen und deren Zahl auch im Bundesland Sachsen-Anhalt im Steigen begriffen ist. In den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte W. Schenkluhn eine aktuelle Umfrage aus der Aprilausgabe 2001 des evangelischen Magazins “Chrismon”, die deutlich macht, daß 82 Prozent der Befragten einer Umnutzung von leerstehenden Kirchen positiv gegenüber stehen. Nur 12 Prozent vertreten die Meinung, die Kirche solle bleiben, was sie ist: ein heiliger Raum. Somit war der Schwerpunkt des zweiten Kolloquiumstages umrissen: Was soll mit denjenigen Dorfkirchen geschehen, die in einem schlechten baulichen Zustand sind, welche Möglichkeiten ihrer weiteren Nutzung bieten sich, und welche der dargebotenen Alternativen sind aus kirchlicher Sicht vertretbar und welche nicht?

Der Kirchenoberbaurat der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, Michael Sußmann (Magdeburg), machte deutlich, daß Fragen von Sanierung und Nutzung der Dorfkirchen nicht erst seit der politischen Wende 1989/90 ein Thema in der Kirchenprovinz gewesen sind und es sich dabei um eine große und vielschichtige Problematik handelt, für die es keine Patentrezepte gibt.
Die Kirchenprovinz Sachsen greift weit über die politischen Grenzen des Landes Sachsen-Anhalt hinaus und besitzt ein bedeutsames Erbe sakraler Architektur. Gerade diese große territoriale Ausdehnung bringt aber auch gewaltige Größenordnungen hinsichtlich des Bautenbestandes mit sich. Die Evangelische Kirche verfügt im aufgezeigten Raum insgesamt über etwa 6000 Gebäude. Von den darin enthaltenen 2280 Kirchen stellen die Dorfkirchen mit 75 - 80 Prozent zahlenmäßig den stärksten Anteil dar.
M. Sußmann vertrat die Ansicht, daß die Kirchen im Allgemeinen und die Dorfkirchen im Speziellen aufgrund ihrer funktionalen Bestimmung als Haus Gottes und Ort der Verkündigung eine besondere Stellung innerhalb des Denkmalinventars einnehmen würden. Im Gegensatz zu anderen Bauten wie beispielsweise den Burgen, ist ihre inhaltliche Nutzung gleich geblieben. Aus diesem Grund sei es wichtig, diesen besonderen Stellenwert bei der Erhaltung zu bewahren. Daß es infolge der schwierigen Situation teilweise zum Verkauf von Kirchen kommt, sei unvermeidbar, aber nicht die Regel. Nicht in der Umnutzung, sondern in der Nutzungserweiterung bei der Bewahrung der heiligen Orte im Kirchenraum (Altar, Taufe etc.) erkennt M. Sußmann die Chance für die Dorfkirche. Darüber hinaus warf er die Frage nach der Möglichkeit eines bewußten “Sterben lassen” von ruinösen Dorfkirchen auf, was im Hinblick auf den natürlichen Kreislauf des menschlichen Lebens zum Alltag gehöre.

Der Kirchenoberbaurat beim Landeskirchenamt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen, Bernd Rüttinger (Eisenach), stellte fest, daß die Frage nach einer Umnutzung leerstehender Kirchengebäude in Thüringen erst seit der politischen Wende verstärkt in der Diskussion steht. Ebenso wie in anderen Landeskirchen sind auch in Thüringen etwa 10 Prozent des sakralen Baubestandes nicht mehr nutzbar. Trotzdem machte B. Rüttinger seinen Standpunkt gegen eine Umnutzung deutlich und führte drei Thesen für dessen Bekräftigung an: erstens bringe die rein profane Verwendung einer Kirche auf dem Dorf vom ökonomischen Standpunkt her gesehen keine Vorteile, zweitens würde sie dem Erhalt der historischen Substanz nicht gerecht und drittens erfolge durch eine Neunutzung auch eine Verlagerung der öffentlichen Verantwortung für das Gebäude. Gerade Menschen ohne Konfession könnten über das “Denkmal Kirche” mit der “Institution Kirche” in Berührung kommen. Ebenso kann die gemeinsame Arbeit am zentralen Bauwerk des Dorfes eine vorübergehend “schlummernde” Kirchengemeinde wieder zum Leben erwecken, was am Beispiel der 1938 abgebrannten und erst in den letzten Jahren wieder aufgebauten Kirche von Borxleben aufgezeigt wurde. In diesem Sinne könne keine Rede vom Ausverkauf der Kirche sein. Das Motto des Referenten lautet: “Oberstes Ziel substanzerhaltender Maßnahmen ist und bleibt der kirchliche Gebrauch sakraler Bauten!” Eine erweiterte Nutzung sei vertretbar, wenn Sanierungskonzepte sinnvoll sind; die reine Umnutzung sollte dagegen nur als Ausnahmeregelung in Betracht gezogen werden.

Der Oberkirchenrat und Baureferent im Evangelisch-Lutherischen Landeskirchenamt Sachsens, Ulrich Böhme (Dresden), machte darauf aufmerksam, daß zunehmende Unkenntnis über das Christentum auch eine Gleichgültigkeit gegenüber der Kirche und den sakralen Gebäuden mit sich bringe, wobei aber gerade Kirchen “Juwelen im Denkmalbestand” seien. Ähnlich wie B. Rüttinger wies er darauf hin, das Kirchen – auch unterschiedlicher Zeitstellungen - immer die gleiche Bestimmung besaßen; sie waren demzufolge Festraum und bauliche Hülle für die christliche Religion und immer auch ein (Kult)urort. Aus diesen Gründen ist die Kirche keine Immobilie und darf nicht nach Belieben vermarktet, umgenutzt oder gar entsorgt werden. Gerade die Dorfkirche einer Ortschaft ist für die Mitglieder der ansässigen Gemeinde die wichtigste Kirche im ganzen Land. Der Referent ging in seinen Ausführungen sogar soweit, für eine Gewichtung innerhalb des Denkmalbestandes zu plädieren, wobei dem Kirchenbau aufgrund der aufgezeigten Bestimmung als christlicher Hort der Vorzug vor anderen historischen Gebäuden zu geben sei. Damit vertrat er eine Meinung, die bei einem Großteil der Veranstaltungsteilnehmer auf Kritik stieß, wie sich in der anschließenden Diskussion zeigte.
Da viele Kirchen bekanntlich in einem akut gefährdeten Zustand sind, wurde 1998 von der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihren Gliedkirchen die Stiftung zur Bewahrung kirchlicher Baudenkmäler in Deutschland (KiBa) mit den Zielen ins Leben gerufen, diese Kirchen zu erhalten, Sanierungsmaßnahmen zu fördern und den Gedanken, die Bewahrung der kirchlichen Baudenkmäler in das Bewußtsein der Menschen zu bringen und als “nationale Aufgabe” zu begreifen, zu verbreiten. Um die Arbeit der Stiftung effektiv zu gestalten, wurde im September 2000 ein Förderverein gegründet, zu dessen Unterstützung U. Böhme aufrief.

Rudolf Lückmann (Dessau), Lehrstuhlinhaber im Fachbereich Architektur und Bauingenieurwesen der Hochschule Anhalt in Dessau im Arbeitsbereich Denkmalpflege, machte die Teilnehmer mit den Möglichkeiten der Dokumentation von Dorfkirchen vertraut, die im Zuge der Erschließung von Braunkohlengebieten der Devastierung zum Opfer fallen. Exemplarisch wurde die von Studenten der Hochschule durchgeführte Bauaufnahme der Dorfkirche von Schwerzau vorgestellt. Der kleine turmlose romanische Saalraum besaß einen breiteren Polygonalchor, der einer spätmittelalterlichen Umbauphase entstammte. Durch archäologische Grabungen, die parallel zu den bauhistorischen Untersuchungen stattfanden, konnte der ursprüngliche Ostschluß des ersten Baues festgestellt werden: eine Halbrundapsis. Neben der üblichen zeichnerischen Dokumentation in Form verformungsgerechter Grund- und Aufrisse, Ansichten und Baualtersplänen sowie einer umfangreichen fotografischen Erfassung wurden auch Baudetails aufgenommen. Die genaue Analyse des Bauwerkes in Zusammenschau mit den Ergebnissen archäologischer und dendrochronologischer Untersuchungen ermöglichen ein umfassendes Bild des Werdeganges dieser Kirche von ihrer Errichtung bis zum Abbruch. Die detaillierte Bauaufnahme einer zum Abriß verurteilten Kirche ist sicherlich keine glückliche, aber gerade im Hinblick auf eine notwendige und weiterführende wissenschaftliche Auswertung wichtige Dokumentationsarbeit.

Nachdem die Kirchenvertreter ihre Standpunkte zur Umnutzung bzw. Nutzungserweiterung sakraler Bauten dargelegt hatten, stellte Jörg Kowalski (Halle) vom Architekturbüro Kowalski & Irmisch, am Beispiel der St. Nicolaikirche zu Wettin eine geplante Nutzungserweiterung vor, bei der gleichzeitig ein kirchlicher sowie kommunaler Gebrauch ins Auge gefaßt wird. Die heutige Stadtkirche wurde seit den 1960er Jahren nicht mehr für den Gemeindebetrieb genutzt und befindet sich in einem dementsprechend desolaten Zustand. Das Projekt des Architekturbüros sieht eine räumliche Trennung zwischen dem Chor als Ort des christlichen Gottesdienstes und dem Kirchenschiff als kommunalen Veranstaltungsort vor. Laut Referent ist diese Scheidung der eigentlichen Bestimmung des Sanktuariums als Platz des Altares, dem Allerheiligsten einer jeden Kirche, geschuldet. Einbauten sind in Form eines sogenannten “Funktionskubus” vorgesehen, der den westlichen Teil des Kirchenschiffes einnehmen und die für eine gesellschaftliche Nutzung notwendigen Räumlichkeiten enthalten wird. Gleichzeitig kann er als Projektionswand für Kinoveranstaltungen dienen. Die Ausführung des Kubus soll in Leichtbauweise erfolgen, wodurch nicht nur eine aufwendige Fundamentierung vermieden wird, sondern auch die Gewähr einer jederzeit möglichen Reversibilität gegeben ist. Die Durchführung des Projektes geschieht in Abschnittsbauweise, so daß auch während der Bauarbeiten eine gottesdienstliche Nutzung gesichert ist.



Bei der abschließenden Exkursion wurden vier Dorfkirchen des Saalkreises vorgestellt, die neben bemerkenswerten bauhistorischen Aspekten vor allem im Hinblick auf den zweiten Tagungsschwerpunkt von Interesse waren. Letzteres wurde besonders bei den ersten drei Objekten deutlich, welche die ganze Variationsbreite möglicher - und nicht nur rein kirchlicher -Nutzungen aufzeigten.

Die Dorfkirche von Kaltenmark stammt zu großen Teilen noch aus romanischer Zeit. Bereits in den 1980er Jahren wurde das schon lange leerstehende Gotteshaus von der Kirche an die Metallkünstler und Bildhauer Harry Kleemann und Andreas Freyer verkauft, die es behutsam als Atelier und Werkstatt ausbauten. Neben der gelungenen Verbindung von “Kunst und Kirche” überzeugt auch der vom denkmalpflegerischen Aspekt her gesehene, überaus schonende Umgang mit dem Bauwerk. So erfuhr die Bausubstanz keine wesentliche Veränderung, und es wurde auch auf den Einbruch größerer Fenster und Türen verzichtet, was der Arbeit in einem Atelier durchaus zugute gekommen wäre. Ohne Zweifel wurde die Kirche nach der Übernahme durch die beiden Künstler vor dem drohenden Verfall gerettet. Dieses Beispiel zeigt somit eine Möglichkeit der angemessenen und sinnvollen Nutzung eines kirchlichen Bauwerkes auch in rein privater Hand.

Die kleine Chorturmkirche von Sylbitz ist eine der wenigen Dorfkirchen in der Region, die nur in geringfügigem Maße bauliche Umgestaltungen erfahren hat und im Prinzip seit ihrer Errichtung um 1200 unverändert auf die heutige Zeit überkommen ist. Durch die ungewöhnlich gute Erhaltung auch der inneren Bau- und Ausstattungsdetails sowie die zurückhaltende barocke Einrichtung läßt sich hier wie in keiner anderen Kirche im Saalkreis der ursprüngliche Raumeindruck einer ländlichen Pfarrkirche des Mittelalters noch in etwa erahnen. Das seit einigen Jahrzehnten ungenutzte Gotteshaus befindet sich jedoch in einem bedenklichen Zustand. Im Dezember 2001 fand die Gründung eines Fördervereins statt, der sich die Erhaltung und behutsame Sanierung dieses Kleinods zum Ziel gesetzt hat.

Bereits seit 1993 ist ein Förderverein an der Dorfkirche von Osmünde tätig. Die schon in romanischer Zeit bedeutende Anlage besitzt eine interessante und sich durch alle Stilepochen ziehende Baugeschichte. Die Kirche befand sich seit längerer Zeit in einem ruinösen Zustand, der 1986 im Einsturz des Westturmes gipfelte. Der Vorsitzende des Fördervereins, Peter Dörheit (Gröbers), machte die Exkursionsteilnehmer mit der Geschichte des Ortes sowie der Arbeit und den Erfolgen des Vereins vertraut. Durch diese beispielhafte Initiative können einerseits wieder regelmäßig Gottesdienste stattfindenden, andererseits ist die Kirche mittlerweile ein regionaler Anziehungspunkt für Konzerte und Ausstellungen geworden.

Die Dorfkirche zu Naundorf bei Dölbau, die in großen Teilen aus der Zeit um 1220/30 stammt, wurde aufgrund ihrer bauhistorischen Bedeutung als letztes Exkursionsziel ausgewählt. Das aufwendig gestaltete Säulenportal des Schiffes zeigt in der Ornamentik und auch in der Qualität der Ausführung deutliche Bezüge zu den Steinmetzarbeiten der Stiftskirche auf dem Petersberg. Das dortige Augustiner-Chorherren-Stift, das zugleich Grablege der Wettiner war, hatte im 12. und 13. Jahrhundert eine bedeutende Rolle bei der Christianisierung seines Umlandes inne und verfügte über zahlreiche Besitztümer und Rechte in den Ortschaften des Saalkreises.



Der große Diskussionsbedarf der rund 60 Teilnehmer, die aus dem gesamten Bundesgebiet angereist waren, führte die Aktualität des Tagungsthemas vor Augen und zeigte, daß eine Veranstaltung dieser Art seit langem ausstand. Das Kolloquium machte nicht nur den aktuellen Erkenntnisstand über mittelalterliche Landpfarrkirchen deutlich, sondern offenbarte auch die forschungsgeschichtlich bedingten Defizite und damit die in der zukünftigen wissenschaftlichen Bearbeitung zu behandelnden Fragestellungen. Erkennbar wurde auch, daß die Kirche im Dorf aufgrund ihrer vermeintlichen Provinzialität in der Vergangenheit zu Unrecht zur fachlichen Unbedeutsamkeit herabgesunken war. Dieses Bild ist als überholt anzusehen, da die Erforschung von Landpfarrkirchen grundlegende Erkenntnisse über den mittelalterlichen Kirchenbau nicht nur im Speziellen, sondern auch im Allgemeinen liefern kann. Dabei sind einerseits rein architekturhistorische und ikonographisch-ikonologische Aspekte von Bedeutung, andererseits spielen die Funktion der Landpfarrkirchen innerhalb der jeweiligen Ortschaften sowie der größere Kontext des hochmittelalterlichen Landesausbaus und der Kulturlandschaftsentwicklung eine bedeutsame Rolle. Wichtig erscheint auch das neu zu bestimmende Verhältnis der Architekturgenese von Pfarrkirchen in ländlichen Regionen zu der von Stadtpfarrkirchen, Feld- und Stadtklöstern verschiedener Ordensgemeinschaften sowie episkopalen Bauten. Die heute zumeist gebräuchliche Bezeichnung “Dorfkirchen”, die sich im angelsächsischen Sprachgebrauch (parish church) beispielsweise nicht durchsetzte, ist in diesem Rahmen zu überdenken, was zur Verwendung differenzierterer Begriffe führen sollte. Neue Denkansätze für die Entwicklung vermeintlicher “Architektur- und Kunstlandschaften” werden hier ebenfalls sichtbar. Diese Aspekte können nur durch eine verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit vor allem unter Berücksichtigung von Mittelalterarchäologie, Geschichte und Theologie realisiert werden, worin die Chance eines größeren Erkenntnisgewinns liegt.

In diesem größeren Rahmen sind auch speziellere Untersuchungen wie beispielsweise zur Innenraumgestaltung und zum Bestand an historischer und beweglicher Ausstattung der Landpfarrkirchen sowie zu den jeweiligen Patrozinien, die sich oft erst in Quellen der nachreformatorischen Zeit fassen lassen, von Bedeutung. Auch die Frage nach der liturgischen Funktion bestimmter Raumteile innerhalb der Dorfkirche hat bislang keine zufriedenstellende Klärung erfahren.

In Zusammenhang mit den Aufgaben der Denkmalpflege und der angesprochenen Nutzungsproblematik der Kirchen im Dorf liefern die fachlichen Anknüpfungspunkte auch neue Argumentationsmöglichkeiten, die letztendlich dem Schutz der Bausubstanz dienen. Auch wenn das allgemeine Credo der anwesenden Kirchenvertreter einer rein profanen Nutzung entgegensteht, sollte nach alternativen Möglichkeiten gesucht werden, welche im Endeffekt der Substanzerhaltung der Denkmäler zugute kommen könnten. Die Unterschutzstellung von ganzen Ortschaften oder Ortsteilen in ländlichen Regionen als Flächendenkmäler zeigt, daß die Denkmalpflege z.T. bereits entsprechende Maßnahmen ergriffen hat.
Darüber hinaus war die Tagung ohne Zweifel auch eine Art “Kontaktbörse” und in dieser Hinsicht ein wichtiger Schritt für eine erfolgreiche zukünftige Zusammenarbeit auf diesem Gebiet. Die große und positive Resonanz ließ daher den Gedanken nach einer Folgeveranstaltung aufkommen, deren Planung bereits avisiert ist. Zunächst erscheinen die Beiträge des Kolloquiums jedoch als Heft 3 in der Reihe “Hallesche Beiträge zur Kunstgeschichte” des Institutes für Kunstgeschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, herausgegeben von W. Schenkluhn.



Die Autoren:

Dr. Christine Kratzke
Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V., Luppenstr. 1b, 04177 Leipzig
kratzke@rz.uni-leipzig.de

Dirk Höhne M.A.
Institut für Kunstgeschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Kröllwitzer Straße 44, 06120 Halle
hoehne@kunstgesch.uni-halle.de

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